Jonathan
Jonathan
Georg-Wilhelm-Pfingsten-Schule in Schleswig
Wie alle Schwerhörigen hatte Jonathan Schwierigkeiten mit der Balance. Das Gleichgewichtsorgan sitzt im Ohr und wird bei Hörschädigungen nicht ausreichend stimuliert. Das bedeutet, dass Raumwahrnehmung und Koordination eingeschränkt sind und dadurch die Tendenz besteht zu stolpern und zu fallen. Es führt aber auch dazu, dass räumliche Abstände nicht erkannt werden können und Begriffe wie „vorn“ und „hinten“ abstrakt bleiben. Im Straßenverkehr ist das die Hölle!
Kinder mit Hörfehlern haben folglich ein übergroßes Bedürfnis nach Bewegung; von Schaukeln und Karussels sind sie kaum herunter zu bekommen. Anders ist dies zu Pferde: Das ständige Ausbalancieren in alle Richtungen fällt ihnen sehr schwer. Das Pferd bewegt sich nach vorn, seitlich und hoch und runter. Und wie meistens im Leben ist das, was einem am schwersten fällt, die Erfahrung, die man am nötigsten braucht.
Jonathan hasste die Bewegung zu Pferde. Er tat alles, um ihr auszuweichen, zappelte und hampelte herum. Er liebte den Haflinger Alf, er mochte auch die Reitstunden mit Carolin sehr und freute sich darauf, aber das Sitzen auf dem Pferderücken fiel ihm schwer. Kinder, die wachsen, haben generell übergangsweise Probleme mit der Koordination. Bei Jonathan waren diese Schübe extrem: War er gut drauf, galoppierte er und machte dabei Kunststückchen; ging es ihm nicht gut, fiel er im Schritt vom Pferd. Nach einer halben Stunde Reittherapie jedoch war das Gleichgewicht meistens wieder hergestellt, und dies hielt dann bis zum nächsten Wachstumsschub und/oder den nächsten Problemen mit dem Mittelohr an.
Dass der Umgang mit Jonathan unter diesen Umständen nicht immer einfach war, versteht sich von selbst. Eine schwankende Hörstörung ist für das Umfeld nur schwer zu begreifen. Wir haben mit den Erzieherinnen im Kindergarten immer wieder große Schwierigkeiten gehabt. Das ging von Prügeln - „der Junge hört ja nicht!“ - bis hin zu täglich frischen ,Diagnosen‘: „Jonathan stand vorhin auf den Zehenspitzen. Ihr solltet unbedingt in der Autismusambulanz vorsprechen.“ Jonathan war in zwei miserablen Kindergärten, bis er endlich Hilfe vom Mobilen Dienst der Hörgeschädigtenschule in Schleswig bekam. Erst damit und einem Platz im Koberger Kindergarten beruhigte sich unser Leben. Um so mehr bewundere ich Carolins Geduld und Unvoreingenommenheit im Umgang mit dem Kind. Das hat ihm gut getan, und uns auch.
Obwohl sich Jonathans Mittelohrschwerhörigkeit seit Beginn der Schulzeit verwachsen hat und das Gehör weitgehend stabil ist, reitet er immer noch bei Carolin. Er spielt außerdem Tennis, geht zum Schwimmen, klettert, läuft seine 2k, fährt Rad. Er ist ein gesunder Junge und hat seine Defizite aufgeholt. Sicherlich haben auch andere Therapien zu diesem Erfolg beigetragen, aber im Kern hat er bei Alf und Carolin gelernt, sich zu disziplinieren, gegen den inneren Schweinehund anzukämpfen und dabei auch Rücksicht auf andere zu nehmen. Das ist mehr als die meisten Erwachsenen leisten. Es ist großartig, wie er sein Handicap in den Griff bekommen hat. Wir sind sehr stolz auf ihn.
- Barbara